Hermann Hungerbühler

Als ehemaliger katholischer Pfarrer denke ich oft über die Welt, Kirche und Gott nach – und das vielleicht nicht so, wie man es erwartet.


1932 in Arnegg geboren und aufgewachsen, studierte ich in Mailand und Innsbruck Theologie. Als Priester war ich in Herisau, Heiden, Lissabon und Niederbüren tätig. Meine Reisen führten mich auf vier Kontinente. Heute lebe ich in Gossau.

Biographie

Kinderzeit

Hermann Josef wurde am 25. Juli 1932 als zweites Kind des Hermann und der Berta Hungerbühler-Schweigkart geboren. In Arnegg (Gemeinde Gossau) betrieben die Eltern eine mittelgrosse Landwirtschaft. Inmitten einer munteren Geschwisterschar zogen sich die Jahre mit Neuentdeckungen zu Hause und in der näheren Umgebung dahin.

Schulzeit

Im Nachbardorf Andwil taten sich neue Welten auf, denn nur dort gab es eine Schule und auch eine Kirche. Und die stand an markanter Stelle: Mittelpunkt und Ziel aller religiösen Aktivitäten und Gefühle. Der Pfarrer sprach im Namen und Auftrag Gottes und die liturgischen Zeremonien brachten unmittelbar Heiliges hervor. Weitere Autoritäten nebst dem alten Gemeindeammann waren jene markanten Persönlichkeiten, die jugendlichen Übermut zu zähmen wussten und in den schulischen Fächern zu unterrichten hatten. Zur Sekundarschule wurde das ca. 5 km entfernte Gossau mit dem Fahrrad aufgesucht. Die Wissensvermittlungen wurden praktisch ohne Verluste im Kopf behalten. Erste Zeichenkünste fanden leider keine Fortsetzung.

Grosseltern mütterlicherseits

In der 3. Primarklasse in Andwil

Der Bürolist und sein Umgang mit Holz und Bau

1948 war die Zeit reif, eine kaufmännische Lehre in Angriff zu nehmen. Die Firma Gebrüder Eisenring mit ihren Holzsorten, die dem «Stift» vorher unbekannt waren, standen nun auf den Verkaufslisten. Um mehr Abwechslung in den Büroalltag zu bringen und zwischendurch frische Luft zu schnappen (im Büro rauchte der Chef wie ein Schlot), wurde die Sägerei und die vielen Holzstapel mehr als nötig aufgesucht. Der Duft der frisch geschnittenen Bretter und Balken, das anfallende Sägemehl der verschiedenen Hölzer wurden mit Wonne eingesogen. Die Arbeiter an der Gattersäge wurden ob ihres Standortes beneidet.

Der Besuch der Kaufmännischen Berufsschule in St.Gallen steigerte das Selbstwertgefühl, denn dort wurde man nur mit Sie angesprochen. Die Lehrabschlussprüfung 1951 war nicht halb so wild wie zuvor eingeflüstert und das Salär sprang im folgenden Monat um das Mehrfache in die Höhe.

Offerten für Hoch- und Tiefbauarbeiten des Technischen Büros vermittelten einen Einblick in das konkrete Schaffen, das bald nach Kriegsende einen grossen Aufschwung nahm. Gastarbeiter aus Oberitalien beschäftigten den Bürolisten vermehrt mit amtlichen Formularen und ergaben Kontakte mit dem Konsulat in St.Gallen. Fortschritte beim Häuserbau und Lastwagen voller Bretter zu den entlegensten Kunden gehörten nun zu den sichtbaren Ergebnissen aller Büroarbeit. Das Betriebsklima war angenehm, die Zusammenarbeit mit meinen Kollegen liess wenige Wünsche übrig. Erste Kontakte mit dem Holzschnitzer und kritischen Künstler Wilhelm Lehmann wurden geknüpft.

Militärzeiten

1952 war das Jahr der Rekrutenschule. Wenige Jahre zuvor kam der Zweite Weltkrieg zu seinem Ende. Weit verbreitet war die allgemeine Überzeugung, dass die Armee unter der Führung von General Guisan ein starkes Bollwerk gegen Hitlerdeutschland gewesen sei. Militärischer Drill bei brütender Hitze in Basel und sinnlos erscheinende Übungen verminderten im Rekruten das anfänglich heroische Bild einer wehrhaften Armee.

Auszug aus dem Dienstbüchlein

Feldpredigerdienste im Regiment 77

Berufswechsel

Unmittelbare Auslöser für einen Berufswechsel waren die sich häufenden Misserfolge als Unteroffizier und militärischer Vorgesetzter auf der niedrigsten Stufe. Dafür war er völlig ungeeignet. Seither verfolgte er das nächste Ziel und will Priester werden. Und niemand hat ihm das vorher eingeflösst.

Der Weg dorthin lag nun vorgezeichnet: Wiederum die Schulbank drücken und büffeln. Das Gymnasium für Spätberufene in Ebikon war der ideale Ort und wurde 1954 aufgesucht. Die Gegend am Rotsee, die Stadt Luzern mit dem Vierwaldstättersee und dem nahen Pilatus boten wunderbare Kulissen. Jeder Professor war ein Unikat, mancher für sich eine eigene Welt. Die Studienkollegen stellten eine grosse Mixtur aus verschiedenen Berufen und Herkommen dar. Im Kollegium Karl Borromäus in Altdorf wurde 1959 die Gymnasialzeit mit der Matura abgeschlossen und Mailand wegen des dortigen Freiplatzes als Ausbildungsort für das nächste Berufsziel vorgesehen.

Wilhelm Lehmann: Gedanken, Holzschnitt​

Kollegitheater Altdorf, Derwisch mit Zauberstab​

Italien im Süden und Innsbruck im Osten

An der Ausländeruniversität in Perugia wurde danteske Sprache und Kultur mit südländischem Charme gelehrt. Eine Einrichtung, die von Menschen aus allen Erdteilen besucht wurde und dies inmitten einer Stadt in Umbrien, die voller Wunderbauten prangte. Die Etruskerstadt mit ihrer geheimnisvollen Kultur nahm viele Studenten in Bann.

Anfangs Oktober war der Eintritt ins Mailänder Priesterseminar fällig, das nicht mehr in der Millionenstadt, sondern in der Provinz draussen, in einem Kolossalbau inmitten einer grünen Landschaft untergebracht war. Zusammen mit weiteren Kollegen aus der Schweiz konnte dort die fröhliche Lebensart der einheimischen Studenten erfahren werden. Sie alle wurden religiös auf Hochglanz poliert: Abgeschlossen, fast wie in einem Mönchskloster, abgeschieden vom Lärm und den Verlockungen der grossen Welt. Die Ankündigung und der Beginn des Konzils 1962 durch Papst Johannes XXIII. setzte alle in Erstaunen. Im Wissen, dass eine Treibhauskultur für gewisse Pflanzen gut sein kann, für andere weniger, rieten Kollegen aus Innsbruck zur Fortsetzung der Studien an der Alpenuniversität. Dort würden berühmte Professoren lehren und die Bergwelt lade im Winter zum Skifahren und im Sommer zu Wanderungen ein. So war es denn auch.

Kreuzgang im Seminar

Kreuzgang im Seminar

Zurück nach St.Gallen

Im Priesterseminar in St.Georgen – St.Gallen wurden die letzten Vorbereitungen zur anvisierten Berufsausübung getroffen. Die Bekanntschaft mit neuen Kollegen und die weisen Ratschläge des Regens liessen die paar Monate erträglich erscheinen. Während dieser Zeit wurden die vorgeschriebenen Weihen durch Bischof Josephus Hasler erteilt.

Internationale Soldatenwallfahrt nach Rom 1984

Heiliges Jahr 2000 in Rom​

Erfahrungen bei der Suche nach Lebenssinn

Das angestrebte Ziel war nun erreicht. Nebst den alltäglichen Verpflichtungen eines Priesters wurden weitere Aktivitäten gesucht: Weiterbildung, Reisen, Jugendlager. Mit den kirchlichen Obrigkeiten wurde gelegentlich gestritten, denn jeder versuchte die Ergebnisse des Konzils in seinem Sinne auszulegen. Auch müsste die Kirche nach den Vorstellungen fortschrittlicher Theologen schneller verändert werden. Sie nimmt sich aber Zeit, denn sie glaubt, einen langen Atem zu haben.

Die bunte Palette verschiedener Seelsorgs-Stationen bringt dem Akteur wohl eine Bereicherung; ob das jeweilige Gegenüber ebenso empfindet, muss dahin gestellt bleiben.

In Wil (1965-1970) wurde eine städtische Bevölkerung mit bewusst katholischer Tradition angetroffen. Als Gegensatz dazu wurde Herisau (1970-1976) erlebt, gleichsam im Rückzugsgefecht der aufgezwungenen Diaspora. Heiden (1976-1986), als Wohnort einiger internationaler und nationaler Persönlichkeiten präsentierte sich weltoffen.

Nach 20 Jahren Berufserfahrung in der Ostschweiz wurde der längst gehegte Wunsch, im Ausland ebenso einen Lebenssinn zu finden, auf der Iberischen Halbinsel in die Tat umgesetzt (1986-1991). Eine Fülle unwiederholbarer Erfahrungen mit Land und Leuten, besonders in Portugal, prägten die oft unruhige Seele des nach Lebenssinn Suchenden. Dort entstanden Linien, die in der Folge zu allmählicher Gelassenheit ins sanktgallische Niederbüren mitgenommen werden konnten. Hier (1992-1999) wurde Geschichte konkret erlebt und vor Augen geführt, was bisher nur in Archiven und Bibliotheken nachzulesen war.

Nuno Álvares Pereira als Reiterstatue neben dem Mosteiro da Batalha

Der aktive Ruhestand (ab 1999) in Bollingen bot Gelegenheit, nochmals intensiv in das Phänomen Gott, Kirche und Welt einzutauchen. Dazu bot die Theologische Hochschule in Chur beste Voraussetzungen. Mit der Übersiedlung (2013) nach Gossau SG wurde der Wunsch erfüllt, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren. Hier wurde eine vertraute Landschaft mit alten Bekannten und ein pulsierendes Grossdorf angetroffen. Die nahe Stadt St. Gallen mit ihrem Weltkulturerbe und ihrer Vernetzung im süddeutschen Raum lässt keine Langeweile aufkommen.

Seit 2018 steht im Vallée des Saints in der Bretagne auch eine Statue des heiligen Gallus. Via Stiftsbibliothek St. Gallen gelangte die Anfrage zur Finanzierung aus Frankreich zu mir. Als gebürtiger Arnegger habe ich eine enge Verbindung zum Bistumsheiligen. Sankt Gallus ist Patron unseres Bistums und Namensspender unseres Kantons. Aus Dankbarkeit für ein glückliches Leben, habe ich mich deshalb entschieden, das Projekt finanziell zu unterstützen. Ich habe zudem auch immer Innovationen befürwortet und schätze es, wenn ich somit einen kleinen Beitrag an eine neue Art sakraler Kunst leisten kann.

Dankbar kann nun zurück verfolgt werden, was seit Beginn des Erinnerns zusammengefügt und, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Ausgeglichenheit, in schriftlicher Form niedergelegt wurde. Das Thema «Kirche» wird mich auch am neuen Wohnort Gossau SG weiter begleiten. Dort hoffe ich, die mir noch geschenkten Jahre wachen Geistes erleben zu können.

La Vallé des Saints: der heilige Gallus reicht dem Bär ein Stück Brot